MA (間, japanisch, wörtlich: „Lücke“, „Raum“, „Pause“) ist das,
was zwischen den Dingen,
zwischen den Tönen und Bildern
und auch das, was zwischen den Lebewesen ist.
Es ist die Beziehung der Seinsinhalte und auch der Beziehungen zueinander.
Trenne Dich von allen Dingen und trenne Dich auch von der Trennung.
Nichts kann schöner sein als das menschliche Antlitz, das göttlich ist.
Libera me, Domine.
D R E I M A L E R
ULRICH
Zunächst malte er Raumschiffe und unterirdische Geheim-Welten, voller Sciencefictionszenarien, später klassische Motive ohne Absurdität, Referentialität, Ironie, Kontext. Er stellte sich wie frühere Maler vor sein Motiv und wollte in einer Sitzung konterfeien. Er wollte Malsubstanz am Motiv, teils expressiv, teils impressionistisch, teils gestisch, vorführen. Später ließ er es zu, ein Bild über Monate entstehen zu lassen und wiederentdeckte den Faktor Zeit, beim Herstellen eines Gemäldes, das ihm ermöglichte, sich wieder akribisch in Details zu versenken, so wie damals bei seinen alten Raumschiffen und Technikvisionen. Ihm fehlte dabei nichts, kein Verweis auf die Moderne, auf die Postmoderne, auf die Nach-Nachmoderne, wie diese Zeit sich eben nannte. Später suchte er einen Kollegen, mit dem er zusammen ausstellen konnte, der seine Reminiszenzen an vergangene Malweisen und Epochen (die aber im Grunde zeitlos waren) in Frage stellte mit seinem Werk, um doch die Zeitgeistigkeit seiner Epoche zu berücksichtigen, deren Errungenschaft unter anderem war, das Medium der Malerei distanziert vorzuführen. Diesen Kollegen fand er.
HANS
Hans wollte immer modern sein, Avantgarde, Speerspitze des Fortschritts. Als Schüler am Gymnasium fotografierte er und malte kubistische Bilder, Farbrhythmen, Geometrien. Dann wurde das Material seiner Bilder selbst zum Gegenstand und er wurde ein konkreter Künstler, wie es so schön hieß, ließ den Malprozess, den „paint“, selbst das Bild generieren. Wurde monochrom, wurde zum Erfinder einer Maltechnik, die mittels der Farbflüsse eines Harzes neue Farbräume entstehen ließen. Er bemerkte, dass die Bilder, die er schuf, nicht so „modern“ waren, wie er es ursprünglich immer wollte. Er ersann Skulpturen, Objekte, auch figurative Objekte, Installationen, Überbauten, Unterbauten, Philosophien, die hinter allem steckten, er beanspruchte für sich eine Überflugsmentalität, die seine kühne moderne Haltung unterstreichen sollte – vergeblich. Die Modernität aber in einem einzigen Bild zu entwickeln, erschien ihm redundant, hermetisch und letztlich unmöglich, ohne Angestellter seiner selbst zu werden, gefangen im Postulat der Erfüllung eines modernistischen Auftrages. So formulierte er es für sich und träumte dennoch weiter, seine Träume von moderner Kunst. Da traf er den Kollegen Ulrich mit seinen gegenständlichen Bildern, mit seiner kindlichen Herangehensweise. Genau dies hatte er gesucht, um endlich modern zu sein. Die Gegenüberstellung, Interaktion mit Bildern Ulrichs transponierten, mobilisierten seine ungegenständlichen Hervorbringungen. Machten die Interferenz, den Zusammenklang zwischen den beiden so verschiedenen Findungen zum Ausdrucksträger. Dass Hermann, der dritte Maler, ohne Gemälde, unbehaust und freundlich, die beiden heimsuchte und heim holte, war ein Wunder.
HERMANN
Ganz still und den beiden nah lebte währenddessen ein Künstler mit dem Namen Hermann. Er war es, der Ulrich und Hans versöhnte, ausglich, zusammenführte und, ja, überwand. Er wollte immer im Stillen wirken, nicht berühmt sein, als Ruhmesgestalt. Er wollte gar kein Künstler sein. Er wollte auch kein Philosoph oder irgendetwas sein. Er war einfach er selbst und tat folgendes: Er betete zu Gott, von dem es heißt, dass er Fleisch geworden ist und unter uns gewohnt hat. Dies glaubte er nicht nur, sondern er beobachtete es. Er wusste, dass es so war, wie es aufgeschrieben stand. Das, was überliefert war, deckte sich mit seiner Beobachtung. Das, was er zu künden hatte, war Aufklärung, nicht Glaube. Er war durch und durch ein Maler, weil er wirklich sehen konnte. Es gab nichts, das er nicht in einem kompositionellen Zusammenhang erkannte. Er hatte im Gegensatz zu den beiden anderen das große Glück, vollkommen glücklich und ohne Angst zu sein. Er wurde Vater und erreichte etwas, was Ulrich und Hans nicht beschieden war, er wurde frei durch die Liebe selbst. Er lud die beiden zu sich ein nach Hause. Er lebte in dieser Zeit in Orten der Kunst. Diese Orte waren für ihn überall möglich, Museen, Galerien, Kunstvereine, Kirchen, Schulen, die Straße, die Landschaft, der Raum, die Innenwelt und die Außenwelt. Eine entscheidende Begegnung mit den beiden Malern fand statt in Coesfeld im Jahr 2021. Hermann begegnete dort erneut dem Körper der Malerei.
KÄFIG
Trenne dich von allen Dingen und trenne dich auch von der Trennung. Leave Your Cage. Diese beiden Sätze, vor allem, trug Hans in sich, wenn er an John Cage dachte. Seit seinen Begegnungen mit dem amerikanischen Komponisten in den 80er und Anfang der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts fühlte er sich darin bestätigt, aus Systemen auszusteigen. Sebstverständlich war es damals keine Begegnung auf Augenhöhe, sondern erfüllt von Bewunderung, mit dem Gefälle des Verehrenden dem Verehrten gegenüber. Der schon alte Komponist war ihm damals geistig näher als sein Lehrer an der Kunstakademie, der dies auch bemerkte. Der Lehrer machte in seinen Augen aus Farbe und Malerei einen Fetisch, den Farbe und Malerei nie für Hans bedeutetet hatte. Farbe und Malerei waren für Hans vielmehr ein Transportmittel, mit dem er eine geistige Information formen konnte. Für den Lehrer war der Nachhall wichtiger als der Gongschlag, für Hans war immer beides, eins und verbunden, der Schlag und sein Nachhall.
Cages vier Opern aber (Europeras I-IV), hatten Hans damals überwältigt, obwohl der bewunderte Künstler genau dies nicht wollte: überwältigen. Die Opern bestanden aus dem Repertoire des jeweiligen Hauses, an der sie aufgeführt wurden, und ließen Arien aus verschiedenen Epochen, Bühnenbild, Handlungen, über ein Zufallssystem koordiniert, aufeinander prallen, zusammenwirken, wie es dies vorher noch nie gegeben hatte. Hans beobachtete, dass die Fragmente sich nicht ausschließlich nivellierten (was sie allerdings auch taten), im Sinne einer Zerstörung oder Auflösung durch eine quasi-ironische Infragestellung, sondern dass auch der Fokus auf ihr eigentliches Wesen gelenkt werden sollte, das in Klang, Stille, Melodie, Atmosphäre und Abstraktion bestand. Die Entscheidung hierfür war ganz beim Zuhörer und er fühlte sich ungegängelt und befreit von zeitgenössischer Kunst wie nie zuvor. Durch die Gegenüberstellung der Arien kamen sie sogar eigentümlich zu sich. Hierbei muss aber erwähnt werden, dass mit der Wieder-Zuwendung zu Melodik und Melancholie, zum Beispiel bei Arvo Pärt, auch der geliebte Käfig des Komponisten von Hans wieder verlassen wurde, aber dies war vielleicht auch so beabsichtigt von Meister Cage. Die phantastische Mobilisierung des Denkens aber wirkte weiter in Hans´ Denken.
Es kreiste darum, wie man zeitgenössisch sein kann und dennoch nicht dem Zeitgeist dient, sondern der Ewigkeit. Für die Ewigkeit aber war er begriffslos, außen vor und ohne Ziel und ohne Erkenntnis, abhängig von Denkmodellen anderer. Viel später dachte er: „Die normative Autorität von Kunst ist vorbei. Ihre einstigen Heroen sind gegangen und niemand ist seitdem erschienen, der ihren Platz wirklich einnähme. Stattdessen ist Kunst zum Selbstläufer, zur Design-Livestyle-Entropie geworden, die in eine Art Virtualitätshölle mündet. Sie folgt immer mehr ihren internen Systemen als ihrem medialen Auftrag.“ Hans interessierte aber das Kunstlose in der Kunst, das Hinter-der-Kunst-Seiende und -Wirkende. Göttlich erschien ihm, Kunst zu verlebendigen indem man sie sterben lässt (lange musste er auf jemanden wie Hermann warten).
Und weiter kam auf ihn, der aufmerksam die zeitgenössische Kunst beobachtete, noch mehr: Ein gewaltiges Meer an Distanz, Verselbstständigung referentieller, kontextueller, absurditätsgesättigter oder hermetisch reduzierter Kunst, unfassbarer Entleerung und surrealer Gewalt. Dass die Wirklichkeit selbst ein Wunder ist, still und innen, in der Inwelt erfahrbar, wäre nur als Zitat, als Traum, als Hilflosigkeit möglich gewesen in der Kunst dieses beginnenden Jahrtausends, das ihm geistig zusetzte. Dennoch malte und schuf er weiter Bilder und Objekte.
Als Hans mit Ulrich seine erste Ausstellung machte, begann für ihn die Zusammenarbeit mit dem so anders denkenden Kollegen, noch unbewusst und intuitiv. Jahrzehntelang wurden sie durch Fehlinterpretationen und Missverständisse immer wieder getrennt, fanden sich wieder zusammen und wurden wieder isoliert. Dennoch gab es mehrere Ausstellungen der beiden, die sie nahezu gleichberechtigt zeigten. Vor allem Hans wurde bekannt und dies war ein Missverständnis.
WUNDER
Ulrich unterdessen ging es um die Anwesenheit im Moment der Bildbetrachtung und des Malaktes. Seine Utopie, Modernität oder Auseindersetzung mit Zeitgenossenschaft war schwach bis gar nicht vorhanden. Er wollte keine Absurdität, keine Referentialität, keine Verweise, keine Distanz, keine Leere, keine Kälte, keinen Spiegel der Zeit herstellen. Ihn interessierte es nicht, eine Figuration, die neu war, zu entwickeln, da er ein tiefes Misstrauen in dieses Neue als etwas Hermetisierendes hatte. Er sah sich als Interpret, als Instrument eines uralten, zeitlos-ewigen Vorganges, des Malens des Sichtbaren. Seine Welt war die der Gegenständlichkeit und Figuration. Um dorthin zu gelangen, musste er herausfinden, was ein Gemälde neben seiner ikonografischen, ikonologischen, kunstgeschichtlichen, technischen und physischen Bedingtheit und Wirklichkeit besitzt. Es erschien ihm, dass Malerei für jeden einzelnen Betrachter etwas individuell Verschiedenes bereithält und erfahrbar machen kann, was im Bereich der Lebendigkeit und des Wunders verortet ist, zwar physisch real, aber in seiner Verwandlungsnatur im Grunde übernatürlich. Bilder waren für ihn Materie und dies in höchstem Maße in einer durch den menschlichen Willen gesteuerten, bewegten, initiierten Art und Weise. Das immer wieder Überraschende und, wenn er Glück hatte, Überwältigende, war die Anwesenheit zu spüren, die Malerei ihm vermittelte, immer wieder neu, nur in ihm als einzelnenes Individuum erfahrbar, wahrnehmbar. Man selbst ist anwesend und die Malerei ist anwesend und sie trifft sich verschmelzend im Moment der erkennenden Empfängnis der Bildinformation mit dem Betrachter, dachte er. Die Bildinformation geht über das gegenständlich Sichtbare hinaus ins Ungegenständlich-Abstrakte, Auratische ihres Seins, dachte er. Nebenbei bemerkt, musste für Ulrich zum Beispiel ein Porträt abstrakt aufgefasst gemalt werden, damit es stark wurde in der Malerei (seine Erkennbarkeit gewann für ihn dabei sogar, da das Wesentliche des Portraitierten dadurch zum Vorschein kam) und umgekehrt mangelte es in seinen Augen dem ungegenständlichen Gemälde an Motivation (die vom Motiv, dem Anlass, dem Grund abstammt), dann war sie ihm bloß leer und hohl und ein Gefängnis. Darum waren ihm Bilder von so manchen ungegenständlich malenden Künstlern sublim und wahr, Bilder aber des nur äußerlich vereinfachenden, Niederzeichnenden, die Moderne kopierenden, leer und blasphemisch. Das Medium des gemalten Bildes, allgemein das Sichtbare, konnte für Ulrich dem Wort nicht nur überlegen sein, es konnte nachgerade das Gesagte bedingen. Malerei war ihm die Erstveräußerung des Menschen, seitdem sich der Geist erhoben hat aus dem unerbittlichen Existenzkampf der vorkünstlerischen Zeit, in der die Menschen noch nicht die Höhle bemalen konnten, noch nicht die Figur und die Flöte schnitzten. Malerei wirkt in der Haltung Ulrichs außerhalb aller Gelehrsamkeit, unmittelbar, über das sinnliche Auge in den abstrakten Geist. Es war ihm das urwesentlich Menschliche, was uns reflektiert betrachten und diese Reflektion parallel zur Natur gestalten lässt, indem Malerei angewandt wird. Der Mensch konnte vollkommen anwesend werden in der Anwesenheit des Mediums Malerei und dies war jedem möglich, sobald man unvoreingenommen einfach betrachten lernt, so dachte er. „Bei Vielem, an das wir glauben, beherzigen wir nicht, dass wir tatsächlich hätten wahrnehmen können und damit stattdessen: hätten wissen können. Es ist sichtbar, das Wunder, man muss nur bereit sein die Augen zu öffnen. Hierum könnte sich physisch, sinnlich, geistig, denkend die Malerei sorgen.“
So dachte Ulrich und dies war die Grundlage der Zusammenarbeit mit Hans.
SCHWEIGEN
Was ein Bild ist, beschäftigte den Maler Hermann sein Leben lang. Als kleines Kind sah er das Nichts als Bild. Ein Bild des Grauens, ein Höllenbild: Hinter dem Nichts erschien ihm das Nichts und dahinter unendliche Zeit, ewig und für immer: Nichts. Dahinter war nichts. Er konnte in die sternenlose Tiefe dieses schwarzen und zeitlosen Raumes, den er sah, der keiner war, sondern pure Negation, blicken, so wie es eindringlicher nie wieder im Leben geschehen kann, da er noch ein kleines Kind war und dies ungefiltert hat sehen können. Da aber wusste er augenblicklich, indem er beschloss und erkannte: Es gibt nicht das Nichts, sondern alles ist in Gott, der reines Sein ist. Dieses Sehen war an Unsichtbarkeit gebunden, zunächst, und war das Bild, das ein Wort ist, bevor es gesehen werden kann. Dieses Erkennen im Unsichtbaren war ihm geschenkt worden und dafür war er augenblicklich dankbar.
2006 dann sah er und erreichte ihn ein Bild, das in Italien aufbewahrt wird, das genau dies ausdrückte und mehr noch, es war, was er als kleines Kind beschließend, wissend, dankend, erkannt hatte: das vollkommene Sein, das als Bild nur in der Liebe selbst als Person seine Entsprechung findet. Das Schweigen des Bildes sprach zu ihm vollkommen und nicht teilbar, als Person, die universell gut ist. Dieses Bild war das Volto Santo von Manoppello, das den auferstehenden Christus zeigt, wie kein zweites Bild auf Erden. Er schrieb: „Das, was das Bild des Volto Santos von anderen Portraits unterscheidet, ist die Gegenwart. Das Bild ist keine Erinnerung an Christus, es ist die Gegenwart des über uns staunenden Menschengottes. Schau ihn an. Er ist die Erlösung. Nur in ihm ist die vollumfängliche Wahrheit Gegenwart. Van Eycks Christus, das monumentale Triumpfkreuz in Münster, Da Vincis Salvator Mundi, Van der Weydens Christus, Rembrandts Christus, selbst die byzantinischen Mosaiken Christi – alles Erinnerungen bzw. Abstraktionen. Erinnerung ist Abstraktion. Ab-straktion ist Erinnerung. Das Volto Santo ist keine Erinnerung. Das Volto Santo ist pure Gegenwart. Reines Sein. Zeitloses Erwachen.“
Derlei Erkenntnis gehörte damals nicht in die Kunst der Gegenwart und auch die Zeit selbst, in der die Menschen lebten, rückte derlei in die Nähe blumiger Folklore. (Das aber niemand auch nur annähernd die Maltechnik der Aktivierung von prismatischer Lichtreflexion in der perlmuttenen Substanz des Bildträgers des Volto Santos, das aus Muschelseide besteht, erkären konnte, sei hier nur am Rande erwähnt.) Alle Verachtung, Ignoranz, alles Desinteresse, Wahrnehmungs-Verschlossenheit und -Trübung, alles haarscharf an diesem Bild Vorbeizielende und es doch Verfehlende seiner Zeitgenossen, und hier vor allem des Fachpersonals, änderte nichts an der Tatsache, dass Hermann mit seinem Schaffen den Kontakt hergestellt und aufrechterhalten hatte zu etwas, das ewig ist, auch wenn das Ewige dem Jetzt geopfert zu sein schien. Dabei war Hermann das Ewige im Jetzt anwesend.
Was den Maler Hermann letztlich interessierte, war der Ausstieg aus Systemen und das gleichzeitige Anerkennen einer Macht, die über allem und unter allem und in allem wirkt. Deshalb war das Bekenntnis Libera me Domine, befreie mich Herr, für ihn die wahre Befreiung. Der ostasiatische Gedanke-trenne dich von allen Dingen und trenne dich auch von der Trennung- , der den von Hans bewunderten John Cage getragen hatte, war darin enthalten. Die Trennung von der Trennung war ihm die Anerkennung des Herrn. Der Blick seines Herrn sprengte ihm alle Ketten. Hier konnte nur der Kronschatz, Vernunft und Liebe, im Einklang, den Weg weisen. Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer, der Schlaf der Liebe macht verlassen, erkannte er. In Christus, der Hermann das einzig wahre Bild, die wahre Entsprechung dieses Prinzips war, erstehen wir auf, jeden Tag und jeden Moment. „Das System meiner Zeit aber hat alles verschlungen. Und auch die Kunst ist so korrumpiert worden wie niemals zuvor. Man könnte sagen, dass mittlerweile die Inbesitznahme der Kunst durch das System deren Wesen ausmacht. Das göttliche Prinzip aber, das der Freiheit und der Liebe, muss ein System hervorbringen, das überweltlich ist. Das „System“ meiner Zeit hingegen ist im Begriff, alles Freie umzuwandeln in einen Traumzustand. Das Absurde hat das Wunder verdrängt.“ So dachte Hermann.
Über sein Grundanliegen als Künstler konnte er nicht schreiben. Er wusste es als Versprachlichtes nicht. Er konnte es nicht in Worte fassen. Eines aber war gewiss: Er spürte, dass sein Grundanliegen anders ist als das, was ihn umgab im Betrieb der Kunst. Was ihm zunehmend zusetzte, war die gewaltige Sprachlosigkeit, die ihn anblickte, wenn er über sein Schaffen reflektieren sollte. Ein Satz kam ihm in den Sinn: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“ von Ludwig Wittgenstein. „Das wäre ein Anfang über das, was ich als Künstler in meinem Leben geschaffen habe, nachzudenken.“, dachte Herman. Als Grundanliegen durchströmte sein Schaffen genau dieses Schweigen. Der Unterschied zum ebenfalls schweigenden, weltberühmten Maler Gerhard Richter aber, der in der selben Stadt wie Hermann wohnte und den er auch in dessen Atelier besuchte, war, dass Richter sein Schweigen der Bilder der Welt gewidmet hatte. Dieses Schweigen des erfolgreichen Kollegen spiegelte die Welt. Und so war der Richters Grundanliegen treffendste seiner ungezählten Katalogtitel: Spiegel.
Auch das Schweigen der sogenannten konkreten Kunst der sechziger Jahre des 20. Jahrhunders war das Schweigen eines Noli-Me-Tangere, der Erkenntnis eines Sich-Distanzierens vom Fassbaren über das Namenlose einer entleerenden Haltung. „Bei dem Schweigen all der Kunst, die in den Jahren der Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts bis in die zwanziger Jahre des 21. Jahrhunderts referentiell, kontextuell, konzeptionell, im Absurden, im Tod, in den Dingen der Welt, die uns tagtäglich nahe sind, agiert, ist mein Schweigen ein anderes“, dachte Hermann. „Mein Schweigen ist nicht dem Tod der Welt, dem Absurden, gewidmet, nicht dem Nichts, nicht einer falschen Transzendenz, nicht der nur vage bleibenden und die Wahrheit des Christus-Ereignisses ausklammernden Spiritualiät, sondern mein Schweigen ist dem Leben des Schweigens, das kein Körper ist und doch eine Person, gewidmet.“
Er sagte: „Das letzte Bild. Dafür sind die Erscheinungen da, um uns Bilder zu geben! Das Wesen der Existenz ist malerischer Natur. Der erste Schnee. Wie man im Moment eines schönen Bildes sich und die Existenz annimmt! (Sich und die Existenz annehmen und alles wird ein schönes Bild.) Das Wesen der Bilder schließt diesen Moment ein, es ist ihm zuinnerst. Könnte man wirklich sehen, wäre man augenblicklich glücklich. Das Glück ist nicht die Idee der Anderen davon, sondern die eigene, persönliche Entscheidung zum Öffnen der Augen. Das Bild schaut uns an, mehr als wir es können.“
Aber den Pinsel rührte er nicht an, nicht ein gemaltes Bild ist von ihm bekannt, wohl aber seine Volto Santo Installation und seine Fähigkeit, Ulrich und Hans zu mobilisieren, bleiben sein Verdienst in der sichtbaren Welt, er, der ganz im Unsichtbaren zuhause war.
Als er zu Ulrich und Hans, im Jahre 2006 stieß, war es für die beiden zunächst ein Schock und sehr fremdartig. Man musste sich erst miteinander befreunden und man kann sagen, dass sie im Laufe der Zeit so zueinander fanden, wie es in einer Zeit, in der die Ewigkeit in Gott, der die Liebe ist, allein der Fixstern der Kunst war, schon einmal gewesen sein mag, und doch, es war anders, es war neu, aber das Neue war still und leise, lag innen und wurde zunächst nicht verstanden, es wurde verkannt und übersehen. In Hermanns Augen, die immer sahen wie ein Maler sieht, war diese Zusammenarbeit mit den beiden ungleichen Kollegen die Chance zur wahren Freiheit zu gelangen, die das größte Wunder bedeutet, die Freiheit ewig zu leben weil sie ihm ermöglichte Menschen zu erreichen mit der Wahheit der Bilder. Maler wollen etwas zeigen.
Die Kunst, die zu Beginn des 21. Jahrhunders um sich selbst kreiste, die keine Transzendenz kannte, in Richtung auf Vergangenheit und Zukunft, zumindestnicht so, wie es Hermann beanspruchte, konnte nicht ankommen, wo sie vorgab zu sein: im Jetzt. Dies bedeutete in seinen Augen den Verlust von Wirklichkeit. Durch Ausklammerung des wissenschaftlich nicht Erschließbaren aus dem Wirklichkeitsbegriff wurde deren Wahrnehmung “chloroformisiert”. Genau das, was nicht beabsichtigt war, nämlich in das Dösen einer Gewohnheit zu verfallen, setzte ein im Moment der Ausblendung des Wunders. Darum konnte die Zusammenkunft von Ulrich und Hans in einer Zeit, in der Wahrheit und Realität sich aufzulösen schienen, deren Spiegel die Moderne war (mit all ihren Nach- und Post-Versionen) – die Wirklichkeit als Wunder installieren, das Wunder einer guten Intelligenz – dies war wie ein Erwachen aus tiefer Bewusstlosigkeit. Im Morgengrau des freundlichen Lichtes der Gesamtheit der beiden Maler konnte seine unsichtbare Freundschaft zu den beiden gebundenen und suchenden Kollegen sichtbar werden und leuchten. Maler wollen etwas zeigen.
Die Menschen unterschätzten die Malerei, sie unterschätzten Kunst im Allgemeinen und sie unterschätzten vor allem die Wirklichkeit, die sie als absurd empfanden, anstatt sie als Wunder zu erkennen. Einerseits war der Kunst des beginnenden 21. Jahrhunderts scheinbar alles möglich geworden, so dass alles Mögliche nebeneinander stand, aber es war nicht mehr von existentieller Bedeutung für die Gesamtheit der Menschen. Sie hielten es nicht für möglich, dass die Botschaft eines Bildes gegenläufig sein kann zu seinem illustrativen Gehalt (der klassische Irrtum im Bild), oder sie hielten es nicht für möglich, dass es jenseits der Kunst das Unsichtbare, das Übernatürliche gibt, das durch die Kunst hindurch scheint (der klassische Irrtum eines intelektuellen Feudalismus) und sie hielten es nicht für möglich, dass Wort und Bild letztendlich in eins fallen, sie hielten es nicht für möglich, dass Kunst selbst die normative Grundlage zukommen könnte. Der rote Faden des Sinns von Kunst war durch ein gewaltiges anything goes verdampft.
Es gibt möglicherweise auf der historischen Plattform des damaligen Internets noch einen Kanal auf youtube, der sich moskobus nennt. Dort fände sich ein Video mit dem Namen ZAUBERFILM. Es lohnt sich, diesen Film auch ohne Bild nur als Soundtrack anzuhören. Dort verbinden sich und stehen einander gegenüber: der Gesang einer Amsel, Kammermusik von Luigi Nono und der melodische Rhythmus einer sibirischen Maultrommel. Diese Zusammenkunft dreier Klänge, Kompositionen, Melodie-Rhythmen verkörpert die drei Maler, Ulrich, Hans und Hermann.
Hans half Ulrich und umgekehrt und die drei wurden durch Hermann zum Wunder für einander, indem man gemeinsam wirkte um das Unsagbare, nur Malbare, als Sinn zu beleuchten.
Der Spiegel war zerbrochen, sie wurden eins. Das, was die drei hervorgebracht haben, mag epigonal oder unzusammenhängend erscheinen unter dem Aspekt des damals überkommenen Systems. In Wahrheit aber war etwas fundamental Wesentliches entstanden, das dem gewogenen Betrachter ein Wunder ermöglichen kann: glücklich zu sein, weil man liebt und geliebt wird. Die Zeit steht still in der Schönheit der Gegenwart.
Friedrich von Winter, Belle-Île, 2121
(aus dem Roman: ICH )